Aus der Sicht der Psychologie, von Diplom-Psychologe K.A. Beyer, Zürich
Was hat Sport mit Meditation zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel. Meditation als regungsloses Sitzen und nach innen gekehrte Aufmerksamkeit scheint das Gegenteil einer den ganzen Körper umfassenden sportlichen Tätigkeit zu sein. Bei näherer Betrachtung wird jedoch klar, dass diese beiden Disziplinen nicht nur etwas miteinander zu tun haben, sondern sich ergänzen und sich gegenseitig fördern.
Meditation bedeutet, in sich hineinzuschauen, die eigene Seelenwelt zu erforschen, Frieden, Harmonie, und Freude in sich zu entdecken und so zu einem neuen, tiefgründigeren und erfüllteren Menschen heranzuwachsen. Die Kunst des Meditierens ist im östlichen Kulturkreis am weitesten entwickelt. Jahrhundertelang wurde dieser Schau nach innen soviel Gewicht beigemessen, dass das äussere Leben unwichtig erschien. Erst in diesem Jahrhundert hat sich die Meditation von dieser Isolation gelöst und ist mit einem aktiven äusseren Leben wieder vereinbar geworden.
Sri Chinmoy ist einer der Pioniere dieser Entwicklung. In den von ihm gegründeten Meditationszentren und Sportveranstaltungen wird die Meditation als eine Schulung des ganzen Menschen betrachtet. Es ist nicht nur wichtig, ein seelisches Gleichgewicht zu finden, sondern man möchte diese inneren Werte auch in die Aussenwelt bringen und im Leben verwirklichen. Freude zum Beispiel soll man nicht nur für sich selbst finden, sondern auch anderen weitergeben können. Die Vermittlung solcher seelischer Werte kann in der künstlerischen Betätigung, in der Arbeit und natürlich auch im Sport erfolgen. Dabei ist gerade der Sport ein Mittel, diese Charaktereigenschaften überhaupt erst zu entwickeln.
Die Sportart, die Sri Chinmoy immer wieder als Beispiel wählt und selbst mit grosser Begeisterung während Jahren ausübte, ist das Laufen, vor allem der Langstreckenlauf. Die Beziehung Sport — Meditation wird deshalb in diesem Kapitel und auch sonst im Buch oft am Beispiel des Laufens erörtert, gilt aber letztlich für alle Sportarten — den Hauptunterschied macht meistens nur das äussere Training.
Ein ernsthafter Sportler trainiert nicht nur Körper und Kreislauf, sondern immer auch seinen Charakter. Jedes Training erfordert Disziplin: Aufstehen am frühen Morgen, Trainieren abends in der Freizeit, Einschränken von Alkohol— und Zigarettenkonsum oder das Einhalten eines Trainingsplanes sind Beispiele, wie Sportler sich an Selbstüberwindung gewöhnen müssen. Diese Selbstüberwindung zeigt sich auch im Sport selbst: Die körperliche Ausdauer wird entscheidend vom inneren Durchhaltewillen mitbeeinflusst.
Ausdauer und Geduld sind wichtige psychische und spirituelle Eigenschaften, die ein Sportler ausbilden muss. Je höher man sich das Ziel steckt, desto länger muss man sich darauf vorbereiten. Ein grosses sportliches Ziel erreicht man nicht von heute auf morgen; alle Spitzenleistungen müssen vorerst ein paar Monate oder ein paar Jahre vorbereitet werden. Einem solchen Ziel muss der Sportler viele andere Ziele unterordnen, wodurch er eine innere Zielstrebigkeit entwickelt.
Der Sport wird manchmal auch zum Kampf. Dieser Kampf muss sich aber nicht gegen andere richten. In vielen Sportarten hat der Athlet vor allem mit sich selbst am meisten zu kämpfen. Der Gegner wird zum Weggefährten oder Kameraden auf dem Weg zu einem gemeinsamen Ziel hin. So kann es an Sportveranstaltungen oder Olympiaden neben Kampf um Sieg und Niederlage auch Freundschaften geben oder wie Markus Ryffel einmal sagte: "Was bleibt sind nicht die Medaillen, sondern das, was man dazwischen erlebt hat".
Alle diese Eigenschaften — Disziplin, Selbstüberwindung, Geduld, Ausdauer, Zielstrebigkeit und die Herausforderung seiner selbst werden durch den Sport ausgebildet und sind charakterliche Voraussetzungen eines guten Athleten. Genau dieselben Eigenschaften spielen aber auch eine entscheidende Rolle bei der Meditation, beim Weg zu sich selbst. Disziplin in Form täglicher Übung steht auch hier am Anfang. Wer meditieren lernen möchte, muss die Fähigkeit ausbilden, nach innen zu horchen und zu lauschen, die innere Stimme zu spüren und ihr dann zu folgen. Diese Fähigkeit muss wie ein Muskel trainiert werden. Sie wächst nur langsam heran. Geduld und Ausdauer sind auch hier notwendig.
Niemand wird den Weg nach innen grundlos suchen. Menschen, die sich nach innen wenden, spüren, dass es etwas Tieferes gibt. Auch wenn sie das Ziel nicht genau kennen, die Richtung steht fest: weg von Stress, Frustration und Oberflächlichkeit und hin zu Frieden, Harmonie, Freude und erfüllter Selbsterkenntnis. Je stärker dieser Drang nach innen ist, desto zielstrebiger wird man diesen Weg verfolgen.
Die innere Selbstentfaltung geht nicht ohne Hindernisse voran. Müdigkeit, Lethargie, Nervosität, Ablenkung durch Gedanken, emotionelle Ballungen, Vorurteile, Angst und anderes mehr stellen alltägliche Hindernisse auf dem Weg nach innen dar. Es ist eine Herausforderung, die einiges an charakterlichem Willen abverlangt, sich letztlich aber immer lohnen wird.
Genau wie beim Sport spielen also auch beim Meditieren Ausdauer, Zielstrebigkeit, Disziplin und Selbstüberwindung eine zentrale Rolle. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Sri Chinmoy in vielen seiner Bücher den Meditationsweg als inneres Laufen bezeichnet und den Wert des äusseren Laufens immer wieder mit der Entwicklung dieser Charaktereigenschaften vergleicht.
Die grosse Gemeinsamkeit von Sport und Meditation ist also das charakterbildende Element. Das gilt natürlich wie gesagt nicht nur für das Laufen, sondern für alle Sportarten; ein "sportliches Benehmen" ist ja geradezu sprichwörtlich geworden. Immer mehr Meditierende entdecken den Sport als Hilfe auf dem Weg zu sich selbst, und auf Meditationspfaden wie demjenigen Sri Chinmoys ist Sport als fester Bestandteil ins spirituelle Leben integriert worden. Hier ist es nicht mehr nötig, sich von der Welt abzuwenden, um Gott zu finden — im Gegenteil: man sucht die innere Göttlichkeit inmitten des äusseren Tuns.
Im Sport gibt es bekannte Leistungsträger, die entdeckt haben, dass eine weitere Leistungssteigerung, ohne Verzicht auf Gesundheit und Natürlichkeit, nur mit einer Entwicklung der eigenen Persönlichkeit durch ein geistiges (spirituelles) Leben und Meditation möglich ist.
Hat der Sportler einmal diese Erkenntnis gemacht, kann er durch regelmässige Meditation folgende zwei Resultate erreichen:
1. Durch die Meditation verbessert er seine sportlichen Leistungen, indem diese ihn zu einer optimalen Koordination von Psyche und Körper führt. Psychologische Betreuung und autogenes Training (eine Vorstufe der Meditation) spielen schon heute eine wichtige Rolle bei sportlichen Wettkämpfen. Vor zwanzig, dreissig Jahren brachte eine sportliche Begabung oft schon grossen Erfolge. Heute braucht auch das grösste Talent in irgendeiner Sportart ein intensives Training mit oft sehr ausgeklügelten Methoden. Der heutige Spitzensportler muss nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Psyche auf diese Weise optimal trainieren, um ganz vorne dabei zu sein. Die psychischen Trainingsmethoden sind heute noch sehr rudimentär, werden jedoch ständig verfeinert, und in der Zukunft werden hier Meditationsmethoden eine zentrale Rolle spielen.
2. Meditation hilft, die sportliche Betätigung sinnvoll ins Leben zu integrieren. Dazu wird sie auch im Sport selbst die sportliche Haltung fördern. Es wird wichtiger sein, sein Bestes zu geben und sich selbst zu überbieten, als den anderen zu besiegen. Die Wichtigkeit von Sieg und Niederlage wird relativiert. Meditation macht gleichzeitig den Menschen menschlicher und den Sport sportlicher. Ob nun jemand meditiert, um im Sport erfolgreicher zu sein, oder Sport betreibt, um besser meditieren zu können — Sport und Meditation stellen in jedem Fall eine fruchtbare Symbiose dar.