Von Soldaten gesucht

Diese Geschichte ereignete sich im Herbst 1992, kurz vor dem Krieg der Jugoslawien auseinanderreißen sollte. Ich war gerade erst Schülerin von Sri Chinmoy geworden. Die jugoslawischen Schüler hatten ein Treffen geplant, zu dem sie aus dem ganzen Land anreisen wollten. Es sollte in Sarajewo stattfinden, der Hauptstadt der Republik Bosnien. Für uns Schüler aus Belgrad war Sarajewo am besten mit dem Zug zu erreichen; allerdings führte die Strecke auch durch ein sehr gefährliches Teilstück im Gebiet einer anderen Republik, und gerade über eine bestimmte Bahnstation in diesem Gebiet kursierten Gerüchte über entsetzliche Vorkommnisse, die sich immer wieder dort ereigneten. Jeder durchkommende Zug wurde dort angehalten und die Papiere der Reisenden von Soldaten untersucht. Sie suchten nach Leuten mit gewissen Nachnamen, welche sie als Angehörige einer anderen Nationalität und somit Erzfeinde der letzten kriegerischen Auseinandersetzungen auswiesen. Machten die Soldaten eine solche Person ausfindig, zerrten sie sie aus dem Zug und töteten sie in einem nahegelegenen Feld. Die serbische Polizei wiederum wagte nicht, sich dem Zug als Begleitschutz anzuschließen, da sie in diesem Fall von den Soldaten ebenfalls exekutiert würden.

Nun wies allerdings mein eigener Nachname, und auch die einiger anderer Schüler, genau die Eigenheiten auf, auf die es die blutrünstigen Soldaten abgesehen hatten. Wir hatten daher in unserem Zentrum in Belgrad eine ernsthafte Diskussion darüber, ob wir es wagen könnten zu dem Treffen in Sarajewo anzureisen, oder ob man gar das Treffen für ganz Jugoslawien absagen sollte. Da es aber schon von langer Hand geplant und von allen sehnsüchtig erwartet wurde, beschlossen wir schlussendlich doch zu fahren. Auch hatten wir das Gefühl, dass wir uns als Anhänger eines spirituellen Meisters, und als Friedensbewegung, nicht durch solch dunkle Umstände davon abhalten lassen sollten. Und siehe da, die Zugfahrt nach Sarajewo verlief ohne Zwischenfälle und wir verbrachten mehrere wunderbare Tage im Kreise unserer Freunde. Das sollte sich allerdings auf der Rückfahrt schlagartig ändern!

Als wir in besagter Station einfuhren, bestieg eine Gruppe Soldaten den Zug und kontrollierte jedes Abteil. Schließlich kamen sie auch zu uns und verlangten unsere Ausweise. Als der Soldat den Namen in meinem Pass sah, riss er überrascht die Augen auf und wollte sofort meinen Wohnort und den Grund meiner Reise wissen. Ob ich Verwandte in der verhassten Region hätte, ob ich Kontakt zu ihnen pflegte, sie besuchen würde … .  Als er mit dem Ausfragen begann, fragte ich mich ängstlich, was jetzt passieren würde. Aber ich versuchte äußerlich ruhig zu bleiben und die Fragen des Soldaten so besonnen wie möglich zu beantworten. Ich verneinte gewissenhaft, dass ich Verwandte in dem besagten Gebiet kennen würde, zeigte ihm meinen Studentenausweis und versuchte ihm zu beweisen, dass ich in Belgrad geboren wäre, dort studierte und keinerlei Verbindung zu anderen Teilgebieten Jugoslawiens hätte. Dann erzählte ich ihm, dass ich ein Mitglied der Sri Chinmoy Friedensorganisation sei und dass ich in der Gruppe reiste. Der Soldat jedoch schien nicht überzeugt. Immer und immer wieder stellte er mir dieselben Fragen und weigerte sich mir meinen Pass zurückzugeben. Schließlich trat er aus unserem Abteil in den Gang und rief seinem Offizier zu, er habe hier ein verdächtiges Subjekt lokalisiert!

"Hol ihn aus dem Zug!" schrie der Offizier zurück. "Da gibt es nur ein Problem", erwiderte der Soldat, "es handelt sich um ein Mädchen!". "Was…?" der Offizier stürmte heran und ich hörte unter Qualen seine schweren Schritte näherkommen. Ich weiß nicht, wie ich äußerlich so ruhig bleiben konnte und die zahllosen Fragen des Offiziers so vertrauensvoll und freundlich beantwortete. Die Gefühle, die dabei in meinem Inneren tobten, sind schwer zu beschreiben! Ich war mir von Anfang an voll bewusst, dass ich mich in einer lebensbedrohlichen Situation befand und dieses Gefühl, dass mein Leben an einem seidenen Faden hing steigerte sich, je länger mich die Soldaten ausfragten. Ich weiß nicht mehr welche Worte ich in meinem Inneren wiederholte, um Gott um seinen Schutz anzuflehen, aber ich erinnere mich deutlich, dass ich dachte: "O Gott, das war’s jetzt, innerhalb weniger Minuten kann mein Leben zu Ende sein!" Währenddessen hörte der Offizier nicht auf mich zu befragen, mein Foto zu studieren und mich abzuschätzen.

Da plötzlich passierte es: Ich vernahm in mir ganz deutlich und voll Sicherheit die Worte "No! Everything will be alright!" ("Nein! Es wird alles gut ausgehen!"). Sofort begann meine Angst zu verebben und das lebensbedrohliche Gefühl in mir nachzulassen. Der Offizier, der immer noch meinen Pass studierte, klappte ihn plötzlich zu, reichte ihn mir mit einem durchdringenden Blick zurück und verließ ohne ein weiteres Wort zu sagen unser Abteil. In diesem Moment hatte die Gnade und der direkte Schutz meines Meisters mein Leben gerettet, denn ich weiß mit absoluter Sicherheit, dass es mir mit meinen menschlichen Fähigkeiten nicht möglich gewesen wäre, die Soldaten, die nur allzu bereitwillig nach scheinbar verdächtigen Personen fahndeten, davon zu überzeugen, dass ich nicht eine von jenen war, die sie suchten.

Bhashata, Belgrad