Nicht-Verhaftetsein

Ein wahrer Philosoph ist derjenige, der nicht verhaftet ist. Er allein kann die Schau der Wahrheit besitzen. Besitzt er einmal diese Schau, so ist es leicht für ihn, gegenüber Erfolg und Misserfolg, Freud und Leid, Vergnügen oder Schmerz gleichgültig zu sein. Sein Nicht-Verhaftetsein bedeutet nicht, dass er der Welt nicht helfen wird oder von der Welt nicht Hilfe erhalten wird. Es bedeutet nur, dass er nicht an diejenigen gebunden sein wird, denen er hilft oder die ihm helfen. Wenn wir verhaftet sind, werden wir frustriert, doch wenn wir nicht verhaftet sind, werden wir erfüllt. Wenn wir fühlen können, dass Gott in und durch uns wirkt, ebenso wie in der Welt und durch die Welt, dann können wir wahrhaft frei sein.

Verhaftetsein verringert sich nicht mit dem Alter. Verhaftung kann nur durch inneres Streben überwunden werden. Um uns von Verhaftungen zu befreien, müssen wir durch mehrere Stadien gehen. Wir müssen heilige Schriften und spirituelle Bücher studieren. Wir müssen die Gesellschaft von spirituellen Suchern suchen, die diese Bücher schon gelesen haben und sich nun nach dem wirklichen Licht sehnen, oder von Suchern, die schon ein wenig Licht – in unbedeutendem oder in beträchtlichem Maße – durch ihr inneres Streben erlangt haben. Wir müssen uns bewusst sein, dass es in der normalen Welt überall um uns herum Versuchungen gibt, denen wir ständig erliegen können und dass wir heldenhaft dagegen ankämpfen müssen. Wir müssen unseren Verstand von unserem physischen Bewusstsein und den körperlichen Bedürfnissen weg lenken. Wir müssen in die Welt eines erweiterten Bewusstseins eintreten. Wir müssen die Notwendigkeit fühlen, das göttliche Ziel< zu erreichen. Und wir müssen den Anweisungen des inneren Führers folgen, der Gott ist, entweder in Gestalt eines gottverwirklichten spirituellen Meisters oder in Seiner eigenen unverkörperten Form.

Verhaftetsein ist die Wurzel des Verlangens; Unwissenheit ist die Wurzel des Verhaftetseins. In dieser Welt sind wir an den Körper, das Vitale (die Lebenskraft), den Verstand und das Herz verhaftet. Warum? Weil wir besitzen wollen. Leider vergessen wir, dass es nichts auf der Erde gibt, das wir für immer besitzen können. Nein, nicht einmal für lange Zeit.

Indiens großer Philosoph Shankaracharya sagte: „Wer ist deine Frau, wer ist dein Sohn? Diese Welt ist sehr sonderbar. Brüder, denkt an den Einen, der euch ewig gehört.“ Das ist die Botschaft des Nicht-Verhaftetseins. Wenn du an eine physische Person verhaftet bist – die Ehefrau, den Ehemann, den Sohn, den Freund – dann bindest du nur dich selbst und den anderen. Doch wenn du den wahren Gegenstand deiner Anbetung in der Ehefrau, im Ehemann, im Sohn siehst, dann kann göttliche Erkenntnis in dir dämmern.